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Wartende Vertriebene vor den Viehwaggons

 

Historischer Rückblick

 Enthüllung der Gedenktafel am Hauptbahnhof Bayreuth 

28. Juli 2010   14.00 Uhr

von Edith Bergler

Am 1. Mai 1945 verbreitete sich die Nachricht von Hitlers Selbstmord. Damit war klar, daß der 2. Weltkrieg  in Europa vorbei war, den die Nationalsozialisten entfesselt hatten.

Danach begann am 5. Mai 1945 in Prag der Nationalaufstand, der mit tagelang anhaltendem Quälen, und Morden der Deutschen in dieser Stadt einherging. Ab dem 8. Mai 1945, dem Tag an dem Deutschland kapitulierte, fiel das Sudetengebiet, das 1938 dem Reich angeschlossen worden war, an die wieder entstehende Tschechoslowakei zurück. Hier waren jetzt alle Deutschen rechtlos und vogelfrei.

Der Funke der Abrechnung sprang von Prag auf das Land über und gipfelte in Standgerichten, Massakern, Todesmärschen und der sogenannten „wilden Vertreibung“, bei der die Deutschen brutal und ohne Habe über die Grenze getrieben oder in offenen Kohlenwaggons abtransportiert wurden.

Vom 17.Juli bis 2.August 1945 trafen sich die drei alliierten Großmächte, vertreten durch Josef Stalin (Sowjetunion), Harry S. Truman (USA) und Winston Churchill (Großbritannien) in Schloß Cäcilienhof bei Berlin zur Potsdamer Konferenz, um  über den Transfer der Deutschen aus Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei zu beraten. Edvard Beneš, der sich per Dekret selbst als Staatspräsident der Nachkriegs-Tschechoslowakei eingesetzt hatte und zu diesem Zeitpunkt nicht gewählt war, legte dort seine Vertreibungspläne vor, denen Stalin vorab schon zugestimmt hatte.

Beneš erklärte, die tschechoslowakische Nation betrachte die Entfernung der Deutschen und Ungarn aus der Tschechoslowakei als unerläßliche Voraussetzung für die Zukunft der Tschechoslowakei und für den Frieden in Mitteleuropa. Deswegen verlangte er einen international abgesicherten „Transfer“. Um was es Beneš bei der Vertreibung der Deutschen aber wirklich ging, offenbart ein Zitat aus seiner Rede in Tabor, das die Zeitung Mladá  Fronta am 16. Juni 1945 veröffentlichte.

Beneš sagte: „...Es geht um die Entgermanisierung der Namen, der Gegend, der Sitten – es geht um alles, was überhaupt zu entgermanisieren ist. Heute ist die Zeit dafür gekommen. Erinnert euch daran, was uns durch die Germanisierung über die Jahrhunderte weg seit der Hussitenzeit alles geschehen ist. Also wird unsere Losung lauten: Überall und in allem die Republik zu entgermanisieren.

In Artikel XIII der Potsdamer Vereinbarungen legte die Konferenz den ordungsgemäßen und humanen Transfer der deutschen Bevölkerung fest, die in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn nach der „wilden Vertreibung“ zurückgeblieben war.

Weiter verlangte dieser Artikel zwei Dinge:

1.           Die „wilde Vertreibung“ zu beenden, weil das vom Krieg zerrüttete Deutschland keine weiteren Vertriebenen aufnehmen konnte.

2.           Den Abschub erst dann fortzusetzen, wenn die  Unterbringung und Ernährung der Vertriebenen in Deutschland durch die Besatzungsbehörden gesichert waren.

Zu diesen Vereinbarungen der Potsdamer Konferenz, die Vertreibung zu einem legitimen Mittel der Politik machen, möchte ich Victor Gollancz, den englischen Verleger und Schriftsteller, mit einem Zitat aus seinem Buch  „Unser bedrohtes Erbe“ zu Wort kommen lassen:

„Sofern das Gewissen der Menschheit jemals wieder empfindlich werden sollte, werden diese Vertreibungen als die unsterbliche Schande aller derer im Gedächtnis bleiben, die sie veranlaßt oder sich damit abgefunden haben." 

Die Regierungen der CSR und Polens stellten die wilde Vertreibung der Deutschen in die sowjetische Besatzungszone nicht völlig ein, weil Stalin der alliierten Vereinbarung nur pro forma zugestimmt hatte.

Weiter konzentrierte man in der CSR die Deutsch-Böhmen  innerhalb des Landes in Internierungslagern zur Zwangsarbeit, um die Vertreibungseuphorie in Gang halten zu können.

Sobald die Versorgungslage im zerstörten Deutschland einigermaßen sichergestellt war, legten sowjetische und amerikanische Behörden mit der Regierung der Tschechoslowakei die Modalitäten des „geregelten Transfers“ fest, denn die Deutsch-Böhmen wurden nach der Potsdamer Vereinbarung sowohl in die sowjetisch besetzte Zone als auch zum größeren Teil und zu ihrem Glück im Unglück, in die amerikanische Besatzungszone vertrieben. Diese bestand aus Bayern, Hessen,  Nordbaden und Nordwürttemberg.

Im Folgenden beziehe ich mich nur auf die amerikanische Zone.

Für die ordnungsgemäße Abwicklung der sog. „geregelten“ Vertreibung in den Westen wurde vereinbart:

Jeder Transport sollte 1.200 Personen befördern, aus 40 Eisenbahnwaggons bestehen, von denen jeder 30 Personen und das Gepäck aufnehmen sollte.

In der amerikanischen Zone entstanden 4 Grenzdurchgangslager, über die die Züge in den Westen kamen: Furth im Wald, Wiesau, Hof und Neu-Ulm in Schwaben. Von dort wurden die Vertriebenen nach der Entlausung auf Regierungslager verteilt. Davon gab es allein in Bayern 12. Von dort ging es weiter in die Landkreislager und von dort in kleinere Lager.

Auf tschechoslowakischer Seite bestimmte das Innenministerium unter Minister Václav Nosek die Personen zum Abtransport. Das Verteidigungsministerium unter Minister Ludvik Svoboda war für den Abtransport verantwortlich. Dadurch waren die Deutsch-Böhmen zwei Kommunisten ausgeliefert.

Außerdem wurde von der tschechischen Seite ein zweisprachiges Merkblatt erstellt, das am Tag, bevor man sein Heim verlassen mußte, gebracht wurde. Nie mehr hat meine Mutter so geweint, wie ich das erlebt habe, als sie diesen Vertreibungsbefehl bekommen hatte.

Der Text dieses Merkblatts, von dem ein Exemplar im Sudetendeutschen Archiv in München aufbewahrt wird, lautet:

„Sie sind zum Transfer in Ihre Heimat (d.h. heim ins Reich) bestimmt worden und haben (hier war das Datum des nächsten Tages eingesetzt) um 8 Uhr an der Straße vor ihrer Wohnung zu stehen. Mitnehmen können Sie: 2 Decken, 4 Wäschegarnituren, 2 Arbeitsanzüge, 2 Paar Arbeitsschuhe, 1 Arbeitsmantel (Winterrock), 1 Eßschale, 1 Tasse, 1 Eßbesteck, 2 Handtücher und Seife, Nähzeug, Lebensmittelkarten, amtliche Personenausweise und Dokumente, Gegenstände des persönlichen Bedarfs, einige unverderbliche Lebensmittel. Das Gesamtgewicht darf pro erwachsene Person 50 kg nicht überschreiten.“

Weiter hieß es: Sämtlicher Schmuck, Wertgegenstände, Geld sowie Einlagebücher sind an der Sammelstelle abzugeben, wobei eine mit Namen versehene Liste beizulegen ist. Alle Türen sind abzusperren und die mit Namen und Anschrift versehenen Schlüssel an der Sammelstelle abzuliefern. Der Haushaltsvorstand hat beiliegende Papierstreifen zu unterschreiben und die Schlüssellöcher damit zu überkleben. Zurückzulassendes Eigentum darf nicht verschenkt, verkauft oder verborgt werden.Das Nichtbefolgen der Anordnung wird bestraft.“ Ende des Merkblatts.

Damit war der ordnungsgemäße Ablauf der „geregelten“ Vertreibung sichergestellt. Die humane Weise der Vertreibung, die in Potsdam gefordert worden war, gibt es nicht, weil Vertreibung per se inhuman ist.

Was die Regierung der CSR unter „human“ verstand, sah in meinem Fall wie folgt aus:

Wir wurden in Eger mit Peitschen zur Sammelstelle und später zum Bahnhof getrieben. Es folgte die nackte Leibesvisitation, bei der meiner Mutter der Ehering vom Finger gezogen wurde. Dann kam die Gepäckkontrolle, bei der alles weggenommen wurde, was für einen Haushalt wertvoll war. Ich erinnere mich an Berge von Bettwäsche, die zurückbehalten wurden, an eine Frau, die nackt die Perlen einer zerrissenen Kette vom Boden aufsammeln mußte, um diese der höhnisch lachenden Kontrolleurin zu übergeben, an haßerfüllte Augen, an brüllende Männer und Frauen, deren Sprache ich nicht verstand, und an meine übermächtige Angst.

Rücksicht auf Babies, Kinder, Kranke und Alte gab es nicht. Schließlich bekamen wir einen Zettel, auf dem die Nummer des Waggons stand, in dem wir abtransportiert wurden.

Verpflegung oder Getränke wurden von tschechischer Seite nicht verabreicht, auch dann nicht, wenn die Züge tagelang in der CSR unterwegs waren. 

Hier möchte ich Ihnen nicht vorenthalten, was der Engländer Victor Gollancz in seinem erwähnten Buch über die Durchführung der Vertreibungen der Deutschen aus Ost-Mittel-Europa schreibt:

„Die Deutschen wurden vertrieben, aber nicht einfach mit einem Mangel an übertriebener Rücksichtnahme, sondern mit dem denkbar höchsten Maß von Brutalität.“

Der erste Vertreibungszug aus der Tschechoslowakei passierte am 25. Januar 1946 die Staatsgrenze in Richtung Bayern. Die letzten drei Züge kamen am 27. November 1946.

Sämtliche Züge bestanden aus Güter- oder Viehwaggons, die von innen nicht geöffnet werden konnten.  Nach dem Grenzübertritt hielten die Züge kurz an, die Schiebetüren wurden geöffnet und die Züge rollten langsam weiter. Dann traten viele Vertriebene an die offenen Schiebetüren und warfen ihre weißen oder gelben Armbinden hinaus, die ihnen die Regierung der CSR in Anlehnung an die nationalsozialistische Kennzeichnung der Juden verordnet hatte. Die Zielorte der Züge wurden den Vertriebenen nicht mitgeteilt. Deswegen hatten die Deutsch-Böhmen in jedem Zug Angst, in der sowjetisch besetzten Zone anzukommen.

1946 fuhren insgesamt 1112 Vertreibungszüge in die amerikanische Zone. Bayreuth war eines der 12 Regierungslager in Bayern, das sich in Bindlach befand.

Deswegen kamen hier zwischen dem 17. Februar und dem 29. Oktober 1946   33 Güterzüge an. Sie brachten 39.281 Sudetendeutsche, verstört, arm, viele traumatisiert, hoffnungslos alle, vertrieben aus ihrer Heimat, in der sie über 800 Jahre gelebt hatten, weil sie Deutsche waren.

Vertreibungen und ethnische Säuberungen sind völkerrechtswidriges Unrecht und können nicht mit einem vorangegangenen Verbrechen gerechtfertigt werden. Auch nicht mit dem nationalsozialistischen, das unsagbares Leid über Unschuldige gebracht hat.

Von Bindlach aus verteilte man die Vertriebenen auf Landkreislager, z. B. Creußen oder die Plassenburg in Kulmbach. Die Kreisstädte und sämtliche Orte in den Landkreisen mußten Vertriebene und Flüchtlinge aufnehmen. Obwohl in Bayreuth mehr als ein Drittel der Wohnungen zerstört war, fanden bereits 1946   10.224 Flüchtlinge und Vertriebene aus dem Sudetenland und den deutschen Ostgebieten in der Stadt ein Dach über dem Kopf. Das waren mehr als 18% der Gesamtbevölkerung. Nach der Volkszählung 1950 hatte Bayreuth fast 59.000 Einwohner. 22%, nämlich 12.908, waren Vertriebene. Im Landkreis wurden 13.369 Vertriebene gezählt.

Ende November 1946 war die „geregelte“ Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei abgeschlossen. Über 3 Millionen Deutsch-Böhmen waren während der sog. „wilden“ und der sog. „geregelten“ Vertreibung aus dem Land gejagt worden.

Mehr als 200.000 haben Internierung, Massaker, Todesmärsche und Standgerichte sowie Flucht und Vertreibung nicht überlebt, sich aus Verzweiflung das Leben genommen oder gelten als vermißt.

Edvard Beneš war nach dem Ende der Vertreibung zufrieden. Er hatte sich den langersehnten Wunsch einer national weitgehend homogenen Tschechoslowakei erfüllt und einen Nationalstaat für Tschechen und Slowaken geschaffen. Dieses Glücksgefühl brachte er am 24. Dezember 1946, einem Tag, an dem wohl alle Vertriebenen weinten, in seiner Weihnachtsansprache zum Ausdruck: „Die diesjährigen Weihnachten bekamen eine besondere Bedeutung, einen eigenen Charakter dadurch, daß wir sie in unserem Vaterland zum ersten Mal ohne die Deutschen feiern. Das ist ein Ereignis, auf dessen unermeßliche historische Bedeutung ich schon mehrmals hingewiesen habe...Mit dieser Tatsache wurde eines der großen Kapitel unserer Vergangenheit liquidiert.“

Schließen möchte ich meinen historischen Rückblick mit einem Zitat der polnischen Schriftstellerin Olga Tokarczuk, aus dem Lexikon der Vertreibungen, das heuer erschienen ist:

„Der Mensch, der seinen Ort verlassen muß, gibt einen wesentlichen Teil seiner selbst auf. Er wird Opfer einer brutalen Amputation. Phantomschmerzen werden ihn bis ans Lebensende quälen.“